Werte in Balance: Das Werte- und Entwicklungsquadrat für interkulturelles Verständnis
Teil der Serie ‚Kulturübergreifende Kommunikation leicht gemacht‘: Vier Praktische Modelle für kultursensible Kommunikation – von Anna Fuchs. Entdecken Sie, wie das Werte- und Entwicklungsquadrat kultursensible Kommunikation verbessert und Synergien in interkulturellen Teams fördert – praxisnah, vielseitig und ideal für Organisationen.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Werte- und Entwicklungsquadrat hilft, kulturelle Unterschiede im Kommunikationsstil zu verstehen und wertschätzend zu nutzen.
- Werte wie Klarheit und Taktgefühl ergänzen sich im Modell als Schwesterntugenden; ihre Übertreibungen gelten als „zu viel des Guten“.
- Das Modell zeigt: Es gibt keine objektiv „richtige“ Art zu kommunizieren, jede Kultur setzt eigene Schwerpunkte.
- Entwicklungsrichtungen bieten konkrete Ansätze, um den eigenen Kommunikationsstil flexibel weiterzuentwickeln und eine Balance zu finden.
- Im kulturübergreifenden Austausch kann so eine „dritte Qualität“ entstehen – ein wertvoller Raum für Synergie und gemeinsames Wachstum.
„Zu direkt?“
„Oha, das wird eine große Narbe geben.“ Von meiner Anästhesie noch benommen, blicke ich an einer grünen Krankenhausuniform hoch in das Gesicht von Paloma. Sie wiederum schaut ihre Kollegin schockiert an – ungefähr so, als wäre sie gerade dem sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen begegnet.
Trotz des Nebels in meinem Kopf muss ich grinsen. Ich könnte schwören, dass Paloma auf die zugegebenermaßen nicht ganz glückliche Aussage ihrer Kollegin innerlich mit einem „Typisch deutsch!“ reagierte.
Die Deutschen sind „direkt, klar, ehrlich, aufrichtig, undiplomatisch, unfreundlich und unsensibel“, lese ich im Buch Die Deutschen – Wir Deutsche: Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben. Zugegeben, das Buch ist schon etwas älter. Doch wenn ich mich bei meinen internationalen Freundinnen und Klientinnen umhöre, scheint sich dieses Bild zu halten. Auch die Studie Deutschland in den Augen der Welt der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) resümiert: „Die Deutschen sind kühl, distanziert und schroff – also unhöflich.“
Ist da etwas dran? Lassen Sie mich dieses Beispiel aufgreifen, um ein weiteres Modell aus unserer Reihe Kulturübergreifende Kommunikation leicht gemacht vorzustellen: das Werte- und Entwicklungsquadrat.
Das Werte- und Entwicklungsquadrat – ein Universalschlüssel für gelungene Kommunikation?
Immer, wenn ich in meiner Arbeit Gegensätze, Widersprüchlichkeiten, Polarisierungen oder Dilemmata besser verstehen will, hole ich das Werte- und Entwicklungsquadrat aus meinem kommunikationspsychologischen Werkzeugkoffer.
Wir nutzen es als Beratungsquadrat, Feedbackquadrat, Polarisierungsquadrat, Herausforderungsquadrat, lebensphilosophisches Gleichgewichtsquadrat – und ganz besonders als Kulturquadrat. Diese letzte Anwendungsperspektive interessiert uns heute ganz besonders.
Das von Prof. Schulz von Thun entwickelte Modell beruht auf dem Grundgedanken, dass im menschlichen Zusammenleben jeder Wert bzw. jede Tugend eine sogenannte Schwestertugend braucht, um nicht ins Ungleichgewicht zu geraten oder zu dominant zu werden.
So benötigt jeder Wert – wo sie manchmal zu Konflikten führen und wie wir voneinander lernen können etwa Klarheit – ein Gegengewicht, damit er nicht ins Extreme abdriftet. Dieses Gegengewicht könnte hier zum Beispiel Taktgefühl sein. Im Modell stehen sich die Werte Klarheit und Taktgefühl bildlich gesprochen im oberen Bereich des Quadrats gegenüber und sorgen so für Balance. Gelingt es nicht, diese Balance zu finden, etwa weil Klarheit übertrieben wird, rutscht sie ab und wird zur kränkenden Direktheit. Andersherum kann übertriebenes Taktgefühl zu einem nebulösen Herumdrucksen führen, das mehr verwirrt als klärt.
Diese entgleisten Formen eines Wertes finden sich im unteren Bereich des Quadrats wieder – sie zeigen, wie aus einem positiven Wert eine entwertende Übertreibung wird, ein „zu viel des Guten“.
Gelungene Kommunikation: Immer eine Frage der Perspektive
Ob eine Äußerung „ins Extreme“ abdriftet, also „abgerutscht“ ist, liegt dabei allerdings immer im Auge des Betrachters. Menschen kommunizieren weltweit viel zu unterschiedlich, um allgemeingültige Regeln aufstellen zu können.
Wir gehen daher nicht davon aus, dass es eine objektiv „richtige“ Art zu kommunizieren gibt. Aus gutem Grund gibt das Modell auch keine goldene Mitte vor – ganz im Gegenteil. Vielfalt lebt von Unterschieden, und Zugehörigkeit sowie ein echtes Belonging-Gefühl können entstehen, wenn wir diese Unterschiede willkommen heißen.
Mit dem Modell betrachtet bedeutet das, dass wir nach einer gesunden Balance suchen sollten – einer Balance, die entsteht, wenn wir immer zumindest ein kleines bisschen der Gegentugend in unser Verhalten integrieren. Wir sprechen davon, die oberen beiden Werte in einer dynamischen Balance zu halten. Ein bisschen wie bei einer Wippe: Sie funktioniert nur, wenn beide Extreme besetzt sind. Alleine wippen? Das klappt einfach nicht.
Eine schroffe, direkte Ansage ist manchmal genauso notwendig wie eine ausweichende, schwammige Aussage – sei es, um sich aus der Affäre zu ziehen oder die Gefühle des Gegenübers zu schützen.
Nun haben wir bereits gesehen, dass der deutsche Kommunikationsstil oft als zu direkt und bisweilen als unfreundlich-aggressiv wahrgenommen wird. Was hat es damit auf sich? Wie entstehen solche Vorwürfe und Missverständnisse, wenn verschiedene Kommunikationsstile aufeinandertreffen?
Polarisierungen und Missverständnisse: Wenn Werte aufeinandertreffen
Im unteren Teil des Kulturquadrats stehen sich die entwertenden Übertreibungen gegenüber. Was dabei im zwischenmenschlichen – und besonders im kulturübergreifenden – Kontakt typisch ist: Wir sonnen uns in unserem eigenen Wert, sehen unser Verhalten als „genau richtig“ an und nehmen das Verhalten des Gegenübers als „abgerutscht“ ins Visier.
„Ich mache klare Ansagen, du redest nur um den heißen Brei herum!“ – „Ich bin beziehungsschonend, du bist einfach grob.“
So sehen wir oft nur die entwertete Übertreibung der Schwesterntugend. Das Gute, das sie ebenfalls in sich trägt, bleibt dabei unsichtbar und ungewürdigt.
Aus dem Entwicklungsquadrat wird so ein Polarisierungsquadrat, und die Diagonalpfeile weisen jetzt nach unten – als Vorwurfsrichtungen.
Hinzu kommt, dass Menschen sich im kulturübergreifenden Kontakt schnell als Vertreter ihrer Gruppe erleben, erst recht, wenn sie sich in ihren kulturellen Werten oder ihrer Identität angegriffen fühlen. In solchen Momenten ziehen sie sich noch schneller auf „ihre Seite“ des Wertequadrats zurück. Das Ergebnis: Beide Parteien polarisieren immer mehr, vertreten ihre Position zunehmend vehementer und entfernen sich dabei weiter voneinander. Das Verhalten driftet quasi nach links und rechts ab.
Die abwärts gerichteten Pfeile verwandeln sich nun von Vorwurfsrichtungen in interkulturelle Befremdungsrichtungen. Spanier könnten Deutsche als aggressive Klartextsprecher abwerten, während Deutsche Spanier als schwammige „People-Pleaser“ abstempeln. Diese Polarisierung führt dazu, dass ursprünglich nur graduelle Unterschiede als grundsätzliche Andersartigkeit interpretiert werden.
Manchmal kann solche Befremdung sogar in ideologische Hetze kippen – dann sprechen wir nicht mehr von interkulturellen Befremdungsrichtungen, sondern von Diffamierungsrichtungen.
Ein unglücklicher Verlauf, denn eigentlich hätten die beiden Werte doch das Potenzial, sich gegenseitig zu ergänzen…
Entwicklungsrichtungen erkennen und nutzen
Das Denken in „Werte-Paaren“ hilft uns nicht nur, andere besser zu verstehen – es zeigt auch, wo für uns selbst noch „Luft nach oben“ ist, wo wir Entwicklungspotenzial haben. Klartext ohne Taktgefühl ist ebenso wenig zielführend wie Taktgefühl ohne Klartext. Es geht darum, die Schwesterntugenden des oberen Werte-Paares – hier also Klarheit und Taktgefühl – in einer dynamischen Balance zu halten. Ihre entwertenden Übertreibungen dienen quasi als Warnung, die uns daran erinnert, uns den uns „fremderen“ Wert ein Stück weit mehr zu erobern.
Hier liegen die Entwicklungsrichtungen, die das Modell beschreibt: Um den eigenen Kommunikationsstil zu erweitern, gilt es, die jeweils andere Tugend in kleinen Schritten zu üben. Der Name des Modells – Werte- und Entwicklungsquadrat – beschreibt genau dieses Prinzip.
Die diagonalen Linien von unten nach oben weisen auf die möglichen Entwicklungsrichtungen hin: Wer eher Gefahr läuft, auf die Seite der Direktheit abzurutschen, sollte sich Taktgefühl als Schwesterntugend dazugewinnen. Wer hingegen in seiner Rücksichtnahme bisweilen ins Unklare abdriftet, könnte mehr Mut zur Direktheit entwickeln. In der Praxis braucht es dabei oft kleine Schritte – im Coaching etwa „bauen“ wir symbolische Treppen mit verkraftbaren Stufen. Solche Entwicklungsrichtungen lassen sich übrigens auch für Teams, Organisationen oder Kollektive festlegen, für die dann einzelne Stufen als konkrete Maßnahmen geplant werden.
Voneinander lernen und gemeinsam wachsen
Funktionierende Teams, Organisationen und Gemeinschaften leben davon, dass Menschen voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren. Gelingt es, die unterschiedlichen Gewichtungen von Werten konstruktiv zu verbinden, kann manchmal etwas ganz Neues entstehen. Wir sprechen dann von einer „dritten Qualität“, die die ursprünglichen Werte ergänzt oder übersteigt.
Wenn Sie regelmäßig nach solchen „dritten Qualitäten“ suchen, können produktive Räume entstehen, in denen sich die neuen Kommunikationsformen einer gemeinsamen Teamkultur aktiv entwickeln lassen.
Denn darauf kommt es am Ende an: einander auf Augenhöhe zu begegnen, voneinander zu lernen und gemeinsam Organisations- und Teamkulturen zu entwickeln, in denen sich alle wohlfühlen.
Fazit
Wenn wir verstehen wollen, wie unsere eigenen und fremden Werte unser Miteinander prägen und wo sie manchmal zu Konflikten führen, und wie wir voneinander lernen können, finden wir im Werte- und Entwicklungsquadrat ein praktisches und vielseitig anwendbares Werkzeug.
Anstatt den eigenen Stil als „richtig“ und das Verhalten anderer als „falsch“ abzustempeln, lädt das Modell dazu ein, die Stärken der jeweiligen Schwesterntugend wahrzunehmen und voneinander zu lernen. So können wir auch das oft als direkte und bisweilen unfreundlich empfundene Kommunikationsverhalten „der Deutschen“ analysieren und prüfen wo Entwicklung möglich und kulturelles Lernen sinnvoll ist.
Das Werte- und Entwicklungsquadrat hilft uns, das Potenzial von kultureller Vielfalt zu erkennen, anstatt uns von Polarisierungen und Vorurteilen leiten zu lassen. Ziel ist es, aus den verschiedenen Perspektiven zu lernen und eine gemeinsame, wertschätzende Kommunikation zu entwickeln, die individuelle und kollektive Weiterentwicklung fördert.
Teile dieses Textes entstammen dem Buch „Transkulturelle Herausforderungen meistern“
Die Veröffentlichung der Textbausteine erfolgen mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags sowie der Autorin Anna Fuchs.
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