Culture Codes hinter den Kulissen – Wie unsichtbare Fahrpläne unser Denken und Handeln beeinflussen
In kulturell vielfältigen Teams treffen unterschiedliche Denk- und Handlungsmuster aufeinander. Diese sind meist kulturell geprägt, werden nicht hinterfragt und bleiben oft unbemerkt, was zu Irritationen oder Missverständnissen führen kann. Der Beitrag erläutert die Entstehung solcher verborgener Codes, zeigt anhand ausgewählter Beispiele ihre allgemeinen und spezifischen Auswirkungen im Pflegealltag und gibt Hinweise zum Umgang damit.
Das Wichtigste in Kürze
- Wir alle handeln nach inneren Fahrplänen, die uns unbewusst leiten.
- Sie sind Bestandteil unserer Kultur – wie geheime Codes, die wir schon als Kind erlernen.
- Sie beeinflussen unsere Werte, Erwartungen, Bedürfnisse und unsere Wahrnehmung.
- Der unreflektierte Zusammenprall gegensätzlicher Erwartungen kann von einfachen Irritationen bis zu Konflikten führen.
- Je mehr wir über eigene und andere kulturelle Codes wissen, desto besser kooperieren wir in internationalen Teams.
Was ist überhaupt Kultur?
Der Begriff „Kultur“ wird sehr häufig auf Länderkulturen oder Nationalitäten bezogen. Kultur umfasst aber viel mehr als das. Jede Gruppe von Menschen, die gemeinsame Überzeugungen und Wertvorstellungen teilen, hat ihre eigene Kultur. Sie wird durch Aspekte wie Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, sozialer oder ethnischer Herkunft, religiösen oder gesellschaftspolitischen Anschauungen, beruflichen Gepflogenheiten, privaten Interessen u. v. m. geprägt.
Kultur ist eine Art „Programmierung“
Mitglieder einer Kultur-Gruppe folgen oft unausgesprochenen Regeln, die ihre Einstellungen, Haltungen und daraus resultierendes Verhalten steuern, ohne sich dessen bewusst zu sein. Besonders in individualistisch geprägten Kulturen, wie der deutschen, glauben wir, stets selbstständig und eigenverantwortlich zu entscheiden, was wir tun. Tatsächlich greifen wir jedoch meist auf ein Repertoire vorgegebener Verhaltensweisen zurück. Dies gilt besonders in Stresssituationen, in denen schnelle Entscheidungen erforderlich sind und wenig Zeit für detailliertes Nachdenken bleibt. Obwohl nicht alle Menschen einer kulturellen Gruppe identisch reagieren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele in vergleichbaren Situationen spontan sehr ähnlich handeln.
Kultur ist etwas, über das wir nicht nachdenken
Edward T. Hall, der Begründer der interkulturellen Kommunikation als wissenschaftlicher Disziplin, hat schon Ende der 1950er-Jahre drei Aspekte von Kultur betont, nämlich (vgl. Hall 1959):
- Kultur beeinflusst unser tägliches Leben auf vielfältige, manchmal überraschende Weise.
- Kultur bezieht sich auf Denk- und Handlungsmuster, die wir für selbstverständlich halten.
- Kultur ist etwas, über das wir normalerweise nicht nachdenken.
Eine Konsequenz aus diesen und weiteren Faktoren sind die bereits genannten „inneren Fahrpläne“, die uns leiten, ohne dass wir es bemerken.
Eigenschaften von Kulturen
Von „oben“ betrachtet, haben kulturelle Systeme eine Reihe von allgemeinen gemeinsamen Eigenschaften.
Kultur ist erlernt und Instinktersatz
Menschen werden in eine bestimmte Kultur hineingeboren, die sie fortan umgibt. Bezugspersonen leben ihnen diese Kultur rund um die Uhr vor. Kinder lernen sie, ohne sie zu hinterfragen oder zu bemerken. Diesen Prozess nennt man „Enkulturation“. Enkulturation ist vergleichbar mit dem Erwerb der Muttersprache: Beide verlaufen weitgehend unbewusst und innerhalb weniger Jahre. Wir übernehmen die kulturellen Regeln unserer Umgebung und verinnerlichen sie, ähnlich wie sprachliche Regeln. Beide funktionieren als unsichtbares inneres Leitsystem, das uns ermöglicht, spontan und instinktiv „richtig“ zu sprechen und zu reagieren. Solange wir nicht mit anderen Kulturen in Kontakt kommen, fällt uns das nicht auf.
Kultur ist ein Gruppenphänomen und identitätsstiftend
Kultur ist keine individuelle Angelegenheit. Sie entsteht, wenn Gruppen von Menschen bestimmte Werte, Einstellungen und Normen teilen. Jede Gruppe hat ihre spezifischen Merkmale. Überschneidungen zwischen Gruppen sind möglich, der gesamte Merkmal-Fundus zweier Gruppen ist aber nie identisch. Aus diesem Fundus entsteht ein Pool an verborgenen kulturellen Codes, die potentielle Denk- und Verhaltensmuster bewirken.
Diese gemeinsamen Codes und die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen führen zu kultureller Identität. Menschen gehören immer vielen Kulturgruppen an, wir haben deshalb auch viele kulturelle Identitäten. Wir sind beispielsweise gleichzeitig Tochter, Schwester, angehende Pflegekraft, Joggerin, Partnerin, Nachbarin, Europäerin usw. In jeder dieser Rollen gehören wir einer anderen Gruppe mit eigenen kulturellen Regeln an.
Kulturen sind dynamisch und wandelbar
Kulturen sind nicht starr, sondern können sich verändern und tun dies auch. Das kann interne oder externe Gründe haben.
Interne Gründe sind etwa Erfindungen und Entdeckungen – Buchdruck, Fahrzeuge, Maschinen, Computer, Social Media u. v. m. Solche Erfindungen verändern bekannte Prozesse, schaffen Raum und Zeit für Neues. Sie wecken neue Erwartungen und Bedürfnisse, auf die neue Codes folgen. Auch klimatische Veränderungen führen zur Veränderung von kulturellen Lebensweisen.
Die meisten Veränderungen haben jedoch externe Gründe, also Einflüsse aus anderen Kulturen. Materielle oder geistige Elemente einer Kultur A werden von einer anderen Kultur B aufgenommen, wenn nötig, passend zu den eigenen Rahmenbedingungen variiert und schließlich in das eigene Repertoire integriert. Das reicht von Lebensmitteln (bestimmtes Gemüse oder Obst) über materielle Güter (Porzellan, Seide), Rituale und Feste (Meditation, Halloween) bis zu Anrede- und Begrüßungsverhalten (Duzen, Küsschen, Umarmung) u.s.v.m.
Kultur hat sichtbare und unsichtbare Teile
Vieles von dem, was Kultur ausmacht, ist für Mitglieder anderer Kulturen sichtbar, z. B. Architektur, Kleidung, Essen usw. Anderes ist nur den Angehörigen der eigenen Kulturgruppe bekannt, z. B. Traditionen, Werte und Normen. Zu den unsichtbaren Teilen einer Kultur gehört dabei immer auch die Bedeutung vieler sichtbarer Dinge. Das kann sich auf ethnisch-kulturelle Aspekte beziehen (z. B. Aussehen und Einrichtung von Gebetshäusern), aber auch auf Subkulturen innerhalb ein und derselben ethnischen Kultur (z. B. der traditionelle „Bommelhut“). Einige Beispiele finden Sie in der Tabelle.
Gegenstand/Sache | Sichtbar | Unsichtbar |
Architektur | Form, Größe, Farbe … | Gebetshaus, Schule, Supermarkt, Klinik … |
Kleidung | Schnitt, Farbe, Material, Muster … | Hochzeitskleid, „Bommelhut“ in Rot oder Schwarz für (un)verheiratete Frauen in einer bestimmten Region im Schwarzwald, Schuluniform, Berufskleidung … |
Essen | einzelne Lebensmittel, bestimmte Kombinationen … | traditionelles Neujahrsgebäck, Geburtstagskuchen, Shabbat-Gericht … |
Ähnliches gilt für viele Verhaltensweisen oder Äußerungen, denen ebenfalls unsichtbare Werte und innere Fahrpläne zugrunde liegen.
Kulturelle Standards – Orientierung und Stereotypenfalle
Kulturen basieren auf Werten und Normen, woraus sich kulturelle Standards entwickeln – mehrheitlich akzeptierte, „normale“ Denk- und Handlungsmuster einer Kulturgruppe. Diese Standards sind zwar seriös erforscht, bergen aber dennoch die Gefahr der Verallgemeinerung und Stereotypisierung. Berücksichtigen Sie bei der folgenden exemplarischen Darstellung einiger Kulturstandards deshalb, dass sie nur eine mögliche Erklärung für spezifisches Verhalten bieten. Weitere Einflussfaktoren sind immer auch die Situation und das Individuum selbst.
Hierarchische Strukturen
In Kulturen mit (eher) flachen Hierarchien sind Kooperation und Mitbestimmung hohe Güter. Man begegnet sich möglichst auf Augenhöhe und ergreift eigenverantwortlich die Initiative, wenn es nötig ist. Konstruktive Kritik an der Sache ist in Ordnung und wird von der Person getrennt. In Gesellschaften mit steilen Hierarchien gilt das Gegenteil. Vorgesetzte geben und Mitarbeitende erwarten Anweisungen. Aufgaben eigenmächtig zu übernehmen, ist genauso tabu wie Kritik nach „oben“. Zudem gilt Kritik an der Sache als Kritik an der Person.
Die meisten ausländischen Pflegekräfte kommen aus Gesellschaften mit eher steilen Strukturen (z. B. Osteuropa, Balkan, arabischer Kulturraum, Teile Asiens u. a.), während flachere Strukturen als eher deutsch gelten. Im Klinikalltag heißt das: Neue Mitarbeitende werden (zumindest anfangs) gegenüber ihren Vorgesetzten nicht offen äußern, wenn sie etwas stört oder sie etwas benötigen. Der Respekt vor Höhergestellten verbietet das.
Kommunikationsstile
Im interkulturellen Vergleich gilt das deutsche Kommunikationsverhalten als sehr direkt. Klare und präzise Aussagen, die alle wesentlichen Informationen enthalten, sind üblich und gewünscht. In Kulturen mit indirektem Kommunikationsverhalten gilt das als sehr unhöflich, mitunter respektlos – besonders, wenn ein Problem oder Kritik angesprochen wird. Hier wird blumig und ausschweifend vermeintlich „drumherum geredet“. Wichtige Inhalte werden non- oder paraverbal, also durch Körpersprache und Tonfall, vermittelt. Wenn Sie also den Eindruck haben, dass der neue Kollege nicht auf den Punkt kommt, dann versucht er vermutlich gerade, seine Meinung indirekt mitzuteilen.
Familie und Gruppe
Weitere Kulturstandards beleuchten den Stellenwert von Individuum und Gruppe in der Gesellschaft. Man unterscheidet zwischen individualistischen oder Ich-Kulturen und kollektivistischen oder Wir-Kulturen. In Ich-Kulturen, zu denen die deutsche zählt, stehen Persönlichkeit, Selbstständigkeit und individuelle Entfaltung im Vordergrund. In Wir-Kulturen hingegen haben die Gemeinschaft und das Wohl der Gruppe Vorrang vor individuellen Interessen.
Die wichtigste Gruppe ist die Großfamilie, auf die man sich immer verlassen kann, der man aber auch lebenslang zu Loyalität verpflichtet ist. Braucht ein Familienmitglied unerwartet dringende Unterstützung, werden sogar berufliche Verpflichtungen manchmal hintangestellt. Über die Familie zu sprechen und sich nach ihr zu erkundigen, ist deshalb die Basis für Vertrauen, auch am Arbeitsplatz.
Etwa 80 Prozent der Gesellschaften weltweit sind Wir-Kulturen und Ihre neue Kollegin oder Mitarbeiterin kommt mit sehr hoher Wahrscheinlich aus einer solchen Kultur. Wenn Sie Ihr Vertrauen gewinnen wollen, fragen Sie sie nach Ihrer Familie – und erzählen Sie auch von Ihrer eigenen.
Wie können wir die unsichtbaren Culture Codes knacken?
Treffen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Codes aufeinander, so spricht man von „kulturellen Überschneidungssituationen“. Wie Sie bereits wissen, kann es hier zu Irritationen kommen, wenn das Verhalten des oder der „Anderen“ von den eigenen Erwartungen abweicht. Ein Problem dabei ist, dass wir unsere Welt durch unsere eigene kulturelle Brille wahrnehmen, die eigene Kultur zum Maßstab machen und solche Abweichungen daran messen, beurteilen und oft ver-urteilen. Der beste Weg, diesen Zustand zu überwinden, führt über kulturelle Kompetenz bei allen Beteiligten auf allen Seiten. Diese stellt sich aber nicht von selbst ein, man muss sich aktiv darum bemühen. Sie basiert auf drei Pfeilern:
- Wissen: Je mehr wir über kulturelle Systeme im Allgemeinen und spezifische kulturell geprägte Werte, Erwartungen usw. im Speziellen wissen, desto besser verstehen wir ungewohnte Haltungen und Handlungen. Je besser wir sie verstehen, desto effizienter können wir gemeinsame Lösungen entwickeln. Bücher, seriöse Reportagen, Fachvorträge, Fortbildungen – das alles vergrößert unser Wissen. Was leider oft vergessen wird, ist der direkte Austausch mit den Beteiligten. Reden Sie nicht über sie, sondern mit ihnen.
- Haltung: Die Veränderung der eigenen Haltung ist herausfordernd, aber unabdingbar. Machen Sie sich zunächst Ihre Haltung bewusst und erkennen Sie, welche Teile davon kulturell geprägt sind. Akzeptieren Sie, dass Ihre Sichtweise nur eine von vielen ist. Gehen Sie offen und empathisch auf Neues zu, überwinden Sie Vorbehalte und halten Sie Widersprüche aus. Bewerten Sie ungewohnte Ansichten nicht, sondern respektieren Sie sie als gleichwertig.
- Handeln: Leiten Sie aus Ihrem neuen Wissen und Ihrer Haltung passendes Handeln ab. Schaffen Sie aktiv eine Vertrauensbasis, insbesondere zu Beginn. Stellen Sie Fragen, hören Sie zu und teilen Sie Ihre eigenen Erfahrungen. Ermuntern Sie andere und sich selbst. Ignorieren Sie Irritationen nicht, sondern sprechen Sie sie behutsam im geschützten Rahmen an. Dies öffnet die Tür für gemeinsame Lösungen.
Fazit
Unsere Kultur lenkt uns mehr, als uns bewusst ist. Wir können das im Laufe des Lebens teilweise verändern, vollständig ablegen aber nicht. Unterschiedliche kulturelle Codes bewirken unterschiedliche, oft gegensätzliche Haltungen und Handlungen. Nur wenn wir diesen offen und respektvoll begegnen und sie als gleichwertig anerkennen, schaffen wir eine Basis für Kompromisse, Synergien und angemessene Lösungen.
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